DER SYNTHETISCHE HIRSCH WARTET
Wir stehen hier an einer magischen Kreuzung. Verschwunden das Jagdschloss des Herzogs Georg Wilhelm - schon seit zweihundert Jahren -‚ vergangen der flintenschwingende Adel, verweht die einstige Bedeutung Weyhausens als Außenposten der kultivierten Upper Class von damals in der Wildnis der heidnischen Wälder, Zu sehen ist davon nichts mehr, und man hörte auch bisher nichts davon, dass sich in lauen Sommernächten unter dem Vollmond das Schloss wie neu aus dem Boden erhebt und ein Herzog oder Graf im Jagdgewand aus dem Portal tänzelt und über die Kreuzung schwebt.
Das ändert sich möglicherweise, denn der Geist des Ortes wird nun von einem Urvieh aufs Neue beschwören. Neuerstanden ist also nicht der alte Adel und sein Heim, nicht der Jäger in seinen sicheren Mauern, die ihn zur Nacht vor Raubtieren und Gesindel schützen, sondern die gejagte Kreatur. Statt im undurchdringlichen Wald vor seinen Verfolgern Schutz zu suchen, wagt sich das Tier endlich überlebensgroß hervor. Der röhrende Hirsch, der des Jägers Begehren weckt, der röhrende Hirsch, wie er als Bild beim Möchtegernjäger in der Stadtwohnung über dem Sofa hängt - dieser Hirsch ist es freilich nicht. Eugen Egner, der das Tier entworfen hat, nennt es seinen synthetischen Hirsch, also künstliches, zusammengesetztes Lebewesen, aber gerade diese Spezies kann bekanntlich unter Umständen recht gefährlich werden. Kein Wunder, dass die Gemeinde Eschede entschied, den Hirsch sicherheitshalber mit mehreren Jagdsitzen zu umstellen, damit er nicht übermütig wird.
Viele von Ihnen werden sich noch an Eugen-Egner-Ausstellung in der Flohrmühle in Eschede erinnern. Von dem Mann mit den vielfachen künstlerischen Begabungen, der sich auch als Autor absurder Geschichten und Romane einen Namen gemacht hat, waren dort Bilder zu sehen, die sich auf groteske Weise mit dem Grauen des Alltags befassen. Egner, der sich selbst nach wie vor für einen Realisten hält - doch "seine Realität ist nicht von dieser Welt"', schrieb Bernd Rauschenbach einmal über ihn: Egner also wird in seiner Wuppertaler Heimat zum Beispiel von bösartigen Heimwerkernachbarn mit lauten Geräuschen verfolgt.
Das zeichnet und malt er dann, und so kann es nicht verwundern, dass der Künstler bisher als Hirschmaler nicht in Erscheinung getreten war. Es gibt eben zu wenig Hirsche in Wuppertal und zu viele sägenschwingende Männer. Ein Bild von Eugen Egner trägt die Unterschrift: "Jetzt sind wir extra gekommen, um das Haus durchzusägen, und dann macht keiner auf!" Auf diesem Bild ist weit und breit kein Hirsch zu entdecken.
Wahrscheinlich wird jegliches Rotwild, das sich auf die Reise noch Wuppertal macht, auf der Stelle umgesägt. Dennoch gelang' es Egner eines Tages zu seiner Überraschung, einen Hirsch zu zeichnen, bevor er in die Nahe eines Heimwerkers geriet Als Klaus Drögemüller dem Künstler von den magischen Orten rund um Eschede berichtete, erzählte Egner ihm wiederum von seinem Hirsch. Und so war die Idee zu dem Kunstwerk geboren, das Sie hier vor sich sehen.
Es wird Sie nach dem bisher Gesagten kaum überraschen, dass Eugen Egner seinen Hirsch nicht selbst in Heimwerkerarbeit herstellen wollte und konnte. In Egners jüngsten Prosawerk. den " Tagebüchern des Wolfgang Amadeus Mozart, illustriert von mir selbst", findet sich unter dem 27ten Juno 1789 der Seufzer: " Von früh bis spät immer mühsame existieren!" Ein schlichter und wahrer Satz, der auch für den Autor gilt. Für Bastelarbeiten bleibt keine Zeit. Außerdem macht, soweit ich weiß schon der Gedanke an eine Säge den empfindlichen Künstler schaudern. So traf es sich gut, dass es an dieser magischen Kreuzung zu Weyhausen auch eine Tischlerei gibt, die zum "Haus der Heide" gehört. Peter Weckmüller, Jurij Gontar und Mitarbeiter nahmen sich dort der Aufgabe an, Egners synthetischen Hirsch aus Holz zu bauen und so dem Bild Gestalt zu verleihen.
Ich glaube, dass dabei sehr viel gesägt werden musste. Wer die zierlichen Schaukelpferdchen und Kindermöbel gesehen hat, die sonst diese Werkstatt verlassen, Werkstücke, die übrigens gar nicht mal so schlecht zu dem Phantasiekosmos passen, den der Künstler als "seine Zwergenwelt" bezeichnet -‚wer die kleinen Spielzeuge und winzigen Holztabletts betrachtet hat, wundert sich nicht schlecht über monumentale Ausführung des Hirsches. Wer die knapp bemessenen Türen der Werkstatt bemerkt hat, fragt sich, wie dieses überlebensgroße Tier überhaupt je das Licht der Kreuzung erblicken konnte. Nun, es gibt Geheimnisse im Leben eines synthetischen Hirschen, an die wir nicht rühren wollen.
Aus Holz ist also der Hirsch erstanden, auf Holz steht er aber auch. Ebenfalls an dieser magischen Kreuzung hier gegenüber . lebte knapp 250 Jahre lang eine Eiche. Sie, die Wegkreuzung und Schloss schon zu Georg Wilhelms Zeiten überblickt hat, musste jetzt qefällt werden Mit Rücksicht auf Eugen Egner sage ich jetzt nicht, dass sie umgesägt wurde. Eine mächtige Scheibe aus ihrem Stamm, die wie auch immer vom Rest abgetrennt wurde, bildet nun den Sockel für den synthetischen Hirsch.
Er fußt also auch im wörtlichen Sinne auf der Geschichte dieses Ortes. Jetzt haben wir die vier Ecken der Kreuzung beieinander - das demontierte Schloss auf der Nordwestseite die Tischlerei gegenüber, die alte Eiche an der dritten Ecke, und schließlich hier in der vierten, als Schlussstein auf den Weyhäuser Zeitläufen, den synthetischen Hirsch. Der Hirsch röhrt auf seiner kleinen Lichtung. Vermutlich schreit er sogar aus Leibeskräften, man wird es in lauen Mondsommernächten bis Eschede hören können. Wer sich fragt, worum er eigentlich so schreit, sollte sehen, dass er uns die Zunge hinstreckt, als ginge uns das nichts an. Auf jeden Fall wird es kein angenehmes Geräusch sein, das er da zustande bringt, keines, bei dem man sich gemütlich in die Sesselecke kuscheln kann, neben sich die Wand mit den erbeuteten Geweihen. Der überlebensgroße Hirsch führt uns in eine Zwergenwelt, in der das Wild bedrohliche Ausmaße annimmt. Man wünscht sich jetzt die Mauern des sicheren Schlosses zurück, hinter denen man sich verstecken kann. Allenfalls möchte man einmal kurz durch die Gardine spähen, ob das Vieh denn immer noch dasteht. Ja, es geht nicht weg. Durch die Antenne auf seinem Geweih empfängt es die Signale seiner Artgenossen, die den Spieß umdrehen und eine kleine Treibjagd durch die Geschichte veranstalten wollen.
Der synthetische Hirsch wartet. Er wartet auf all die jagenden Grafen und Herzöge der vergangenen Jahrhunderte. Er ruft nach ihnen. Und wenn eines Nachts ihr synthetisches Luftschloss an der Wegkreuzung wiederersteht und sie im Jagdhabit über die Lichtung schweben, wird ihnen kein Luftgewehr mehr helfen Die mächtige Zunge wird sie um die Mitte fassen und genüsslich in den Hirschentrichter hineinrutschen lassen. Ein leise mahlendes Geräusch wird ertönen, und ein leichter Schleier aus Sägespänen wird kurz den Mondschein vernebeln.
Nach einer kleinen, zufriedenen Stille erschallt ans Röhren von Neuem. Und aus den Wäldern klingt es wie Applaus.
Susanne Fischer
Autorin.
Mitarbeiterin der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld lebt in Hohne bei Lachendorf in sicherer Distanz zu den Heidehirschen