Der große Niedersachse Gauß
Geboren wurde er am 30. April 1777 in Braunschweig, und er starb am 23. Februar 1855 in Göttingen. Eine normale Spanne des Lebens nur noch liegt zwischen diesen beiden Daten eine Revolution der Wissenschaft. Vollzogen hat sie Carl Friedrich Gauß, der noch heute zu den genialsten Mathematikern gezählt wird, die jemals gelebt haben. Sieht man sein Bildnis heute, auf dem er wie ein biedermeierlicher Hausvater wirkte, mag man es Kaum glauben, dass sich hinter dieser Fassade ein umwälzender Geist verbarg. Freilich, das spätere Dilemma der deutschen Wissenschaft, den Bereich der Politik von ihrem Denken freizuhalten, zeigte sich auch schon bei Gauß: So hielt er sich zurück, als der hannoversche König Ernst August 1837 die "Göttinger Sieben" verjagte, die gegen die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes protestiert hatten.
Mag sein, dass die oft ernüchternden Erfahrungen mit der Alltagswelt - insbesondere eines Familienlebens voller trauriger Ereignisse - Gauß dazu bewogen haben, sich auf das Reich der reinen und zweckfreien Vernunft zu beschränken, das die Mathematik nun einmal darstellte. Dort aber war er König. Und das Talent dazu ist ihm offenbar in die Wiege gelegt worden. Schon in der Schule fiel er durch sein Zahlengedächtnis und seine Fähigkeit auf, rechnerische Aufgaben durch mathematische Phantasie statt durch sture Kärrnerarbeit zu lösen. Achtzehnjährig beginnt Gauß sein Studium in Göttingen, und diese Stadt wird auch zu seinem Schicksal. Hier wird er Professor, hier beschließt er sein Leben. In Göttingen vollbringt der junge Student auch seine erste große mathematische Leistung.
Gauß löst ein Problem, mit dem sich die Mathematiker seit 2000 Jahren vergeblich herumgeschlagen haben: Wie konstruiert man ein regelmäßiges Siebzehneck mit Zirkel und Lineal? Bisher war man bei der Teilung eines Kreises über Primzahlen, die höher als fünf waren, nicht hinausgekommen. Gauß schafft es, indem er die geometrische Lösung aus einem algebraischen Theorem ableitet. Und von da an geht es immer weiter: Gauß legt die Grundlagen für die nichteuklidische Geometrie, für die Zahlentheorie, die Differentialgeometrie, zu unendlichen Reihen- und Differentialgleichungen, zur Statistik Wahrscheinlichkeitsberechnung. Alles Dinge, die sich im Grunde nur mit Zahlen und mathematischen Symbolen beschreiben lassen. Erstes öffentliches Aufsehen aber erregt Gauß, als Ende 1801 auf Grund seiner Berechnungen der kurz zuvor entdeckte Planetoid Ceres auf der von ihm vorausgesagten elliptischen Bahn um die Sonne wiedergefunden werden kann.
Die Folge ist eine grundlegende Studie über die Theorie der Planetenbahnberechnung. Diese Beschäftigung mit der Astronomie bringt Gauß 1807 die Professur und die Berufung zum Direktor der Göttinger Sternwarte ein. Im Jahre 1816 beginnt die zweite Etappe von Gauß' wissenschaftlichem Leben: ihm wird die Landesvermessung des Königreichs Hannover übertragen, und wieder entwickelt er völlig neue Methoden. Gauß wird zum Begründer der modernen Geodäsie, indem er in seiner Abhandlung über das Verfahren der kleinsten Quadrate lehrt, aus verschiedenen Messungen derselben Größen geeignete Mittelwerte zu bilden und dadurch die Beobachtungsfehler auszugleichen und die Genauigkeit des Messens zu beurteilen. Und angesichts der runden Erdoberfläche entwickelt er die Geometrie der gekrümmten Flächen.
Der dritte und abschließende Abschnitt dieses Lebens schließlich: Gauß' Beitrag zur Physik. Dieser ist durchaus auch praktisch bestimmt: Zusammen mit Wilhelm Weber, einem der Göttinger Sieben, entwickelt Gauß den elektromagnetischen Telegrafen, den er in Vorwegnahme der Zukunft als Grundlage eines erdumfassenden Nachrichtensystems sieht. Damit zusammenhängend die Begründung der Messung magnetischer Kräfte und die Bestimmung der absoluten magnetischen Maßeinheit aus den Einheiten von Masse, Länge und Zeit. Und schließlich wendet Gauß sich auch dem Erdmagnetismus zu, den er von vielen Stellen des Planeten aus beobachten lässt.
"Fürst der Mathematiker' ließ der hannoversche König Georg V auf die Gedenkmedaille zu Gauß' Tod prägen. Damit hatte er recht. Denn Gauß hat die Grenzen des mathematischen Reichs entscheidend erweitert. Allerdings hat er es auch (für imrner?) von der Philosophie getrennt, mit dem es vorher stets verbunden war. Vorwerfen Kann man es ihm freilich nicht. Gauß, zwar im 19. Jahrhundert lebend, war noch ganz Kind der Aufklärung, eines Vernunftglaubens, der sich um überkommene Bindungen nicht scherte. Seine Wirkung aber reicht in unsere Gegenwart und Zukunft hinein: Ohne Gauß' Fragen nach der nichteuklidischen Struktur des Raums wäre die Allgemeine Relativitätstheorie Einstens nicht denkbar gewesen.
Ekkehard Böhm
Aus: "Niedersachsen, Bundesland - Stammesland", Hannover 1989