Rudi Müller
Biografische Notizen von Klaus Drögemüller
Nach Gesprächen mit Ulrike und Hans Müller, Nachbarn und ehemaligen Arbeitskolleginnen.
"Rudi Adolf Albert Müller. Fabrikarbeiter. Geboren am 9. August 1928 in Celle, evangelisch-lutherisch", heißt es nüchtern im Familienbuch, linke Spalte oben, Stichwort Ehemann. Es zeugt zugleich von einer nur noch Insidern bekannten Facette aus dem Leben unseres Rudi: Vom Sommer 1962 bis zur rechtskräftigen Scheidung kurz vor Weihnachten 1967 war er verheiratet mit dem Flüchtlingsmädchen Marianne, gebürtig aus Wolhynien. Ironie des Schicksals: Beider Leben endete mit wenigen Monaten Abstand im Jahre 1996. Rudi Müller starb als letzter der drei Originale am 5. August 1996 für seine Umgebung völlig überraschend im Celler Krankenhaus - vier Tage vor seinem 68. Geburtstag.
Rudis Großvater Wilhelm, von Haus aus Schäfer in Bokel bei Sprakensehl, hatte sich um 1913 in Eschede angesiedelt und zunächst die spätere Bäckerei Weber in der Südstraße gekauft. Er begann hier mit dem Viehhandel, der in zweiter und dritter Generation von Sohn Adolf und bis heute von dessen Adoptivsohn Hans am Osterberg betrieben wird. Für seinen Sohn Rudolf kaufte der Alte um 1920 das Heyer'sche Haus in der Rebberlaher Straße gegenüber dem heutigen Rathaus. Carl Heyer ging in die Dorfgeschichte ein als Erbauer der Flohrmühle (1874), langjähriger Gemeindevorsteher und erster Escheder Standesbeamter. Hier im Dorfzentrum wuchs Rudi als Einzelkind auf. Er galt schon in seiner Jugend als eigenartiger Typ. Zu seinen Altersgenossen gab es wenig Kontakte. Im Schlepptau des Vaters, eine der aktivsten Figuren bei den Escheder Schützen - langjähriger Kassierer, Scheiben-"kieker" und -träger -wurde er zum Mitläufer im Schützenverein. Erst als er später auf seinen eigenen, wegen ihrer Fehlstellung unverwechselbaren Füßen stand, kehrte der Junior dem lange Zeit bedeutendsten Verein im Kirchdorf den Rücken. Anlass für den Austritt war die neue, für Junggesellen ungünstigere Beitragssatzung, weiß Hansi Müller zu erzählen.
Über den Vater, der selbst nach dessen Wiedereröffnung 1957 auf dem "Platz" in Unterlüß arbeitet, kommt auch Rudi mit seinem etwas kindlichen Gemüt bei Rheinmetall unter - als "Kalfaktor". Es wird für Ihn eine Lebensstellung. Renate Heins viele Jahre Arbeitskollegin und Weggefährtin erinnert sich so: "Rudi war zuerst bei den Kanonenputzern. Später kam er dann in die Transportkolonne. Hier blieb er bis zum Vorruhestand." Im Gegensatz zu seiner Ehefrau machen sich die Kollegen nicht über Müller lustig. "Rudi war ein ganz lieber Mensch, sparsam, sauber und für jede kleine Hilfe in seinem Junggesellenhaushalt von Herzen dankbar", hält Renate Heins nachdrücklich fest.
1959 stirbt die Mutter. Für Rudi senior und junior besteht Handlungsbedarf. Es fehlt mindestens eine Frau im Hause! So entschließt sich der lebenstüchtigere Alte, Jahrgang 1896, zur Flucht nach vorn und gibt im "Doppelpack' eine Heiratsannonce auf. Während für ihn scheinbar nichts Greifbares dabei herauskommt, wird Sohn Rudi am 21. Juli 1962, kurz vor seinem 34.Geburtstag, von Gemeindedirektor Gehrmann in den Ehestand gehoben. Doch die Ehe mit der lebensdurstigen, fünf Jahre jüngeren Marianne gerät zur Farce. Sie flüchtet sich bald in außereheliche Beziehungen, die nicht ohne Folgen bleiben. Fünf Jahre hält die Liaison mit Rudi auf dem Papier, dann nimmt sie alle Schuld auf sich.
Jetzt sieht man Rudi verstärkt im Dorf. Mit Franz Sommerfeld entwickelt sich der Feierabend-Treff auf Heineckes Milchbank weiter, bis man der größeren Übersicht halber gegen Ende der Siebziger zur Kreuzung umzieht. Niemand zählt die Stunden, die schweigenden Kopfbewegungen, die Schimpfkanonaden auf Gemeindeväter und Bundeskanzler, Fußballtrainer und Wettergötter. Nachdem sich Sommerfeld und der "Lange Gries" von dieser Welt verabschiedet haben, sucht und findet Rudi Müller Ersatzpartner für Gespräche und lange Spaziergänge durchs Dorf. Er scheint allgegenwärtig mit seinem Watschelgang, der ihm mehrere Spitznamen einbringt. Seine Welt wird immer enger, seine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen scheinbar ständig größer. Mit der Schaufel lauert Müller fliegenden Herbstblättern einzeln auf, nimmt sie schon in der Luft mit lauten Flüchen in Empfang. Zunehmend macht er sich Gedanken um die Zukunft. Wer soll ihn in alten und kranken Tagen versorgen? Das Werben um Nachbarn, die sein Anwesen auf Leibrente gegen eine Verpflichtung zur Pflege bis ins Grab übernehmen mögen, gestaltet sich schwierig. Mit dem jungen Handwerker Klein gelingt ein solches Abkommen zu beider Vorteil. Noch lange werden die Menschen in Eschede von ihrem Mitbürger Rudi Müller Histörchen zum Besten geben. Seine Stelle im dörflichen Sozialgefüge ist vakant.